1901: Carl Edvard Johansson erhält ein Patent auf Endmaße

Endmaße sind kleine Blöcke aus Stahl (heute ggf. auch aus Keramik), die eine definierte Abmessung mit hoher Genauigkeit haben. Durch das Zusammensetzen mehrerer Endmaße kann das gewünschte Maß erreicht werden.

Der Schwede Johansson arbeitete in einer staatlichen Waffenfabrik. Als 1894 eine neue Waffe (ein Karabiner der deutschen Firma Mauser) eingeführt wurde, besuchte Johansson die Firma in der Hoffnung, dort neue und effektive Meßmethoden zu finden. Aber er fand nur, was er schon kannte: Für jedes Maß ein Block aus gehärtetem Stahl, ferner verschiedenste Lehren. Für die in Schweden geplante Lizenzfertigung der neuen Waffe bedeutete das die aufwendige Herstellung einer Vielzahl von Maßblöcken und Lehren 1.

Johansson entwickelte die Idee, eine Art Baukasten von Meßblöcken zu fertigen. Mit einer überschaubaren Anzahl von Meßblöcken konnte eine große Vielzahl von Maßen gemessen werden. Johansson setzte seinen 102er Satz (also 102 Endmaße) wie folgt zusammen:

  • Serie 1: 1,01; 1,02; … 1,49 mm (49 Endmaße)
  • Serie 2: 0,50; 1; 1,5; … 24; 24,5 mm (49 Endmaße)
  • Serie 3: 25; 50; 75 und 100 mm (4 Endmaße)

Diese Idee war neu. Die ersten Endmaße wurden von Johansson’s Frau auf einer umgebauten Nähmaschine gefertigt 2 3. In der Bildunterschrift heißt es:

A sewing machine converted by C.E.Johansson was used at home for the grinding of gauge blocks. The grinding wheel of cast iron may be seen at the right. The blocks were held against this with the right hand.

Mit Hilfe einer umgebauten Nähmaschine wurden die Endmaße zu Hause geschliffen. Die Schleifscheibe aus Guß ist auf der rechten Seite zu sehen. Die Endmaße wurden mit der rechten Hand dagegen gedrückt.

Wie Frau Johansson damit parallele Flächen erzielte, lasse ich mal dahin gestellt.

1899 wurde schon ein Satz von 46 Endmaßen für Johansson’s Arbeitgeber erzeugt, kurz darauf ein 102er Satz. Bild @fig:1901-1 zeigt einen heutigen 87er-Satz der Genauigkeitsklasse 2 (Gebrauchsnormal in der Fertigung), Bild @fig:1901-2 einige Blöcke aus dem Satz.

87er Endmasssatz{#fig:1901-1 width=13cm}

Einige Endmasse{#fig:1901-2 width=13cm}

Johansson gelang es, eine so hohe Oberflächengüte und parallele, ebene Flächen zu erreichen, dass durch »Ansprengen« eines z.B. 50er, eines 25er, eines 24er und eines 1er Endmaßes 100 mm so genau erzielt wurden, dass kein Unterschied zum 100er Endmaß meßbar war, siehe Bild @fig:1901-3 4.

»Angesprengte« Endmasse{#fig:1901-3 width=10cm}

Auch Johansson mußte erleben, dass Erfinder im eigenen Land oft einen schweren Stand haben. Seine Versuche, seine Idee im eigenen Land zu patentieren, zogen sich über Jahre hin. 1901 erhielt er ein erstes Patent in England, das schwedische Patent wurde erst 1904 erteilt, galt dann allerdings rückwirkend ab 1901.

Um wirklichen Austauschbau zu ermöglichen, müssen die Meßwerkzeuge, die z.B. in zwei unterschiedlichen Fertigungsstätten benutzt werden, hier wie da so genau wie möglich mit dem Referenzmaß (z.B. dem Urmeter von Paris 1889 bzw. einer der 30 Kopien in verschiedenen Ländern) übereinstimmen. 1901 begann Johansson damit. Er legte 20 °C als Bezugstemperatur fest (die Wissenschaft hatte erst 1889 0° festgelegt). 20 °C schienen dem Praktiker Johansson als Mittel von Werkstatttemperaturen zwischen 15 °C und 25 °C geeigneter. Ausgehend von Lehren von u.a. Brown & Sharpe aus den USA, Reinecker aus Chemnitz und Loewe aus Berlin erstellte Johansson ein 100 mm Endmaß, welches er vom Büro für Gewichte und Maße des Schwedischen Finanzministeriums in Stockholm vermessen ließ. Althin gibt den Ausspruch des Büroleiters wieder:
»20 °C ? Da müssen wir ja nachheizen, um diese Temperatur zu erreichen !«. Die gemessene Länge betrug 100,019 mm 5.

Damit war er nicht zufrieden. Er fertigte nun einen runden Stab von 100 mm Länge an, den er der zuständigen französischen Stelle zur Verfügung stellte (das Urmeter wurde und wird in Paris beim Bueau des Poids et Mesures aufbewahrt). Nach rund einem Jahr teilte man ihm mit, daß sein Stab bei 20,63 °C genau 100 mm lang sei. Johansson fertigte nun einen Stab, der 0,0007 mm länger war als sein Vorgänger. Für Leser ohne weiteren technischen Hintergrund: Dieser Stab war damit 1/70 Haardicke länger, wenn ich mal die durchschnittliche Haardicke eines Europäers mit 0,05 mm ansetze.

Nun konnten Endmaße mit erstaunlicher Genauigkeit gefertigt werden. Bei erneuten Messungen stellte man in Paris fest:

  • Endmaß 20 mm wurde zu 19,9930 gemessen
  • Endmaß 10 mm wurde zu 9,9963 gemessen
  • Endmaß 6 mm wurde zu 5,9970 gemessen
  • Endmaß 2 mm wurde zu 2,0006 gemessen

Bei einem Besuch des National Physical Laboratory bei London sagte der Chef, man könne in seinem Labor eher auf das Dach verzichten als auf Johansson’s Endmaße.

Eine große deutsche Firma beschwerte sich über ungenaue Endmaße. Johansson schlug vor, dass man alle Endmaße, bei denen man Abweichungen im + Bereich gefunden hatte, aneinandergesprengen solle und das so entstandene Maß dann messen möge. Er werde einen neuen Satz Endmaße liefern, wenn der so gemessene Fehler gleich der Summe der vorher gemessenen Einzelfehler sei.

Statt einer Antwort zahlte der Kunde die noch offene Rechnung (leider hat Althin den Firmennamen diskret verschwiegen 6). Beim Besuch eines Vertreters Johansson’s erfuhr dieser dann, was geschehen war: Man hatte eine Meßmaschine aus Frankreich für 10.000 Franc beschafft und damit die Endmaße geprüft. Bei der Nachmessung hatte es sich dann aber gezeigt, dass diese teuere Anschaffung Fehlmessungen lieferte und so eine Fehlinvestition war .

Dennoch blieben die kommerziellen Erfolge C.E. Johansson’s bescheiden.

Johansson ging in die USA. Wirtschaftlich nicht erfolgreich, akzeptierte er ein Angebot von Henry Ford, exklusiv für Ford zu arbeiten. Endmaße wurden in der amerikanischen Industrie sehr schnell eingeführt. Eine im englischsprachigen Raum auch heute noch oft verwendete Bezeichnung lautet »Jo-Blocks«.

Beim Ausbruch des ersten Weltkrieges stellte man in den Staaten fest, dass die Jo-Blocks alle aus Europa importiert wurden. Da dies durch das Kriegsgeschehen gefährdet war, musste man eine eigene Fertigung aufbauen 7.

Die Briten nutzen offiziell den »Imperial Standard Yard» 1 yard = 36 inches bei 62 °F (16 2/3 °C). Dieser wurde 1895 mit dem Meter abgeglichen und man fand 1 inch zu 25,399977 mm. Die Amerikaner hingegen hatten 1866 ihren inch zu 25.4000508 mm bei 68 °F (20°C) festgelegt. Johansson hatte bei seinen Endmaßen 1 inch zu 25,4 mm festgelegt. Als es im Laufe immer weiter steigender Anforderungen an die Genauigkeit der Werkstücke in den 1920er Jahren nötig wurde, die in England und den USA gebräuchlichen inches abzugleichen, stellte man fest, dass es schon einen de-facto Standard gab: die Jo-Blocks. 1932 wurde Johansson’s Festlegung von den Behörden übernommen - andere Lösungen waren wirtschaftlich nicht zu vertreten 8. In einer Geschichte des National Bureau of Standards heisst es lapidar 9:

Earlier, in 1932, as a matter of industrial convenience, The Bureau and the American Standards Association agreed on a new ratio between the American inch and the millimeter. Arbitrary reduction by 0.00005 millimeter in the American inch made its equivalent to the 25.4-mm inch that was standard in England, and the new agreement put precision measuring in the two countries on the same basis, with consequent advantage to American export industries.

Eher, im Jahre 1932, einigten sich das Bureau und die American Standards Association aus Gründen der industriellen Praktikabilität auf ein neues Verhältnis zwischen dem amerikanischen inch und dem Millimeter. Eine willkürliche Reduktion des amerikanischen inch um 0,00005 Millimeter setzte ihn gleich dem 25,4 mm inch, der in England Standard war. Die neue Vereinbarung stellte Präzisionsmessungen in den beiden Ländern auf eine identische Basis, was für die amerikanische Exportindustrie von Vorteil war.

Henry Martyn Leland, der die Firmen Cadillac und Lincoln gründete, wird der folgende Ausspruch zugeschrieben 10:

There are only two people I take off my hat to. One is the president of the United States and the other is Mr. Johansson from Sweden.

Es gibt nur zwei Menschen, vor denen ich den Hut ziehe. Der eine ist der Präsident der Vereinigten Staaten, der andere ist Herr Johansson aus Schweden.

1901: Die »Geschichte der Dampfmaschine« von Conrad Matschoss erscheint

Conrad Matschoss{#fig:1901-4}

An grosse Ereignisse knüpfen sich gern Geschichtchen - Anekdoten. Die Erfindungsgeschichte der Dampfmaschine kennt eine ganze Anzahl. Eine Weinflasche, eine Tabakspfeife, ein Flintenlauf und vor allem ein Theekessel spielen hierbei eine grosse Rolle. Letzterer hat sich bis auf unsere Zeit im Andenken erhalten, und heute noch wird mancher nicht viel mehr von der Geschichte der Dampfmaschine wissen, als dass ein Theekessel dem jungen James Watt die Geheimnisse seiner grossen Erfindung verraten habe.

So begann im September 1901 der Ingenieur Conrad Matschoss (1871-1942) das Vorwort zu seinem Buch »Geschichte der Dampfmaschine« 11. Der Untertitel »Ihre kulturelle Bedeutung, technische Entwicklung und ihre großen Männer« spannt den Rahmen seines Buches auf - wobei allerdings die Kultur nur 25 der rund 450 Seiten umfaßt. Dieses Buch war seinerzeit ein Novum - Geschichte und Kultur, das waren keine Themen für einen Ingenieur. Ebensowenig war Technik ein Thema für einen Historiker. Mit diesem Buch, welches nicht den Anspruch eines wissenschaftlichen Werkes erhebt (Matschoss machte sich nicht die Mühe Quellen zu benennen und nahm es auch mit der Unterscheidung eigener und fremder Formulierungen nicht immer so ganz genau), begann die Technikhistorie in Deutschland.

Matschoss hatte an der TH Hannover Maschinenbau studiert, kurz bei einem Maschinenbaubetrieb gearbeitet, war dann als Lehrer an ein Technikum gegangen. Nach einer kurzen Tätigkeit bei Siemens & Halske in Berlin wechselte er erneut als Lehrer nach Köln. Seit spätestens 1906 arbeitete er für den Verein Deutscher Ingenieure (VDI), siehe Bild @fig:1901-4 12.

Vermutlich konnte er ab da auch das Buch vorbereiten, welches auch heute noch zu den Standard-Werken zählt und ohne das auch diese Synopsis nicht auskommt: 1908 erschien die zweibändige »Entwicklung der Dampfmaschine« (diese dann mit Quellenangaben). Dieses Werk ist heute frei zugänglich 13.

Matschoss, später Direktor des VDI, zeitweilig auch Mitglied des Vorstandes, hatte großen Einfluß als Publizist und Autor. Zum Teil ging dieser Einfluß auch über den deutschsprachigen Raum hinaus. Im Vorwort zur zweiten Auflage von »James Watt and the Steam Engine« beschreibt Jennifer Tann 1981 recht detailliert, wie »ein deutscher Professor« 1914 Großbritanien besucht habe und intensiv dafür geworben habe, dass die Briefe James Watt’s aufgearbeitet und publiziert werden sollten - direkt vorm Ausbruch des ersten Weltkrieges. Das war Conrad Matschoss, der auch darauf hinwies, dass sich Watt’s Todestag 1919 zum 100. mal jähren würde 14. Letztlich erschien dann 1927 »James Watt and the Steam Engine. The Memorial Volume«, ein Werk, das höchsten Ansprüchen an die Technikgeschichte gerecht wird.

Stand: 21.11.2018


  1. Althin, 1948, S. 45 

  2. Althin, a.a.O., S. 68 

  3. Dimitrios Simitas nutzt auf seiner Webseite Scans des Buches von Althin: Gage Blocks - Jo Blocks Abgerufen 26.7.2016 

  4. Die genauen physikalischen Ursachen sind auch heute noch nicht geklärt, siehe NIST, o.J, Appendix B: Wringing Films pg. 134 ff. 

  5. Althin, a.a.O., S. 74 

  6. Althin, a.a.O., S. 90 

  7. NIST, a.a.O., S. 9 

  8. Althin, a.a.O. S. 118 

  9. Cochrane, 1974, S. 336 

  10. Wikipedia En: Carl Edvard Johansson Stand 25.5.2018 Abgerufen 30.10.2018 

  11. Matschoss, 1901, S. III 

  12. Deutsche Biographie NDB 16 (1990) Matschoss, Conrad 

  13. Digitale Texte der Bibliothek des Seminars für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Köln: Matschoss: Die Entwicklung der Dampfmaschine 

  14. Dickinson, 1927, XVII