1842: Die Stephenson’sche Kulissensteuerung wird erstmals ausgeführt
Lokomotiven müssen vorwärts und rückwärts fahren - aber das war gar nicht so einfach, weder für den Konstrukteur noch für den Lokomotivführer. Conrad Matschoss beschrieb die Prozedur für die erste deutsche Lokomotive, die 1835 von Stephenson gelieferte »Adler« 1:
Die Excenterkörper E beider Maschinenseiten, die mit einander unter einem Winkel von 90° verbunden sind, sitzen lose auf der Kurbelwelle. Rechts und links von den Excentern sind zwei Mitnehmer m (s. Fig. 102) mit der Kurbelwelle fest verbunden und gegeneinander unter 90° versetzt. Je nachdem vom Führerstande aus durch Drehen eines wagerechten Hebels die Excenter mit dem einen oder dem andern Mitnehmer verbunden werden, wird die Lokomotive vorwärts oder ruckwärts sich bewegen. Das Ende der Excenterstange hakt in den Zapfen eines doppelarmigen Hebels ein, dessen anderes Ende mit der Schieberstange verbunden wird. Der Lokomotivführer hat zu dem Zweck den Fusshebel wieder in die senkrechte Lage zu bringen, wodurch er die Excenterstangen zum Einschnappen bringt, und durch Drehen des horizontalen Hebels die Excenterkörper bei Vorwärtsgang mit dem rechten, bei Rückwärtsgang mit dem linken Mitnehmer zu kuppeln.
Bild @fig:1842-1 zeigt die Fig. 102 aus dem Buch von Matschoss, einen sog. »losen Exzenter«.
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Soweit zur Lokomotivsteuerung vor 1842.
Lt. Rolt 2 wurde die sog. Stephenson-Steuerung 1842 von William Williams und William Howe, zwei Mitarbeitern der Stephenson Locomotive Manufacturing Company, entwickelt. Robert Stephenson erhielt ein Modell und erteilte daraufhin den Auftrag, ein 1:1 Modell zu bauen.
Zentrales Element dieser Steuerung ist die sog. Kulisse, daher spricht man auch von Kulissensteuerung. Es handelt sich um ein Bauteil in Form eines Kreissegmentes, durch das der sog. Kulissenstein zwangsgeführt wird und somit einen Kreisbogen beschreibt. Am Kulissenstein ist die Schieberstange angekoppelt. Am oberen bzw. unteren Ende der Kulisse greifen die beiden Exzenterstangen an, die eine für Vorwärts-, die andere für Rückwärtsfahrt. Durch ein Hebelwerk kann nun die gesamte Kulisse vom Platz des Maschinisten aus in der Höhe verstellt werden, siehe Bild @fig:1842-2.
Manche Dinge versteht man besser, wenn man sie in Bewegung gesehen hat, daher verweise ich hier auf ein Video, bei dem man recht gut das Verstellen der Kulisse und die prompte Reaktion der Maschine sehen kann 3.
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Mit der Stephenson-Steuerung wurde es nun möglich, die Fahrtrichtung zu ändern und - wie es sich zeigte - darüber hinaus auch die Füllung der Zylinder zu steuern. Matschoss legt dar, dass erst im praktischen Betrieb der Kulissensteuerung deren Eigenschaft, veränderliche Expansion zu ermöglichen, entdeckt wurde. Er schreibt 4:
Die Theoretiker zweifelten noch lange an der Richtigkeit dieser Beobachtungen. Auch Redtenbacher vertrat die Ansicht, dass die Kulissensteuerung nicht zur Veränderung der Expansion zu gebrauchen sei. Die Lokomotivführer aber kümmerten sich nicht um die Theorie, sondern benutzten nach wie vor in wohlverstandenem eigenen Interesse eine der Mittellage möglichst nahe Kulissensteuerung.
Ferdinand Redtenbacher, den Matschoss hier erwähnt, war als Professor an der späteren Technischen Hochschule Karlsruhe eine weithin geachtete Autorität. Er gilt als der Begründer des wissenschaftlichen Maschinenbaus in Deutschland.
Mit der Stephenson’schen Steuerung wurde es nun möglich, vor- und rückwärts zu fahren, durch die variable Füllung den äußeren Bedingungen (z.B. Zuggewicht, Steigung, Seitenwind) gerecht zu werden und selbst dann auf »rückwärts« zu stellen, wenn der Zug vorwärts fuhr und somit den Zug mit der Lokomotive zu bremsen, was mangels anderer Bremsen an der Lokomotive durchaus von Vorteil war.
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Die Stephenson’sche Steuerung wurde nicht patentiert und fand so rasch weite Verbreitung. Obwohl zunächst bei einer Lokomotive eingesetzt, fand die Steuerung später auch häufige Anwendung bei anderen Dampfmaschinen, die die Drehrichtung ändern mußten, z.B. Walzwerksantrieben oder Schiffsmaschinen, siehe auch Bild @fig:1842-3, auf welchem man auch recht gut den Verstellhebel der Kulisse erkennen kann. Allerdings stellte die Fertigung der Kulisse anfänglich noch ein Problem dar. Daher wurden Varianten der Kulissensteuerung gefunden, bei denen eine gerade (und somit einfacher zu fertigende) Kulisse benutzt wurde (Alexander Allan sowie gleichzeitig und unabhängig Josef Trick).
1842: Jean Jacques Meyer erhält ein Patent auf seine Steuerung mit veränderlicher Expansion
Die Entwicklung der Dampfmaschinen hat eine große Anzahl an Steuerungen hervorgebracht. Für diese Synopsis ist es natürlich nicht sinnvoll, diese Vielfalt darzustellen - umso weniger, als dass es gelegentlich den Anschein hat, daß ein rechter Konstrukteur auch eine eigene Steuerung entwickeln mußte.
Wenn ich hier die Steuerung des Elsässers J.J. Meyer zusammen mit der Stephenson’schen Steuerung anführe, dann deshalb, weil beide 1842 erschienen und beide als Grundmuster für eine Vielzahl von Variationen dienten.
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In Bild @fig:1842-4 ist eine Variante dargestellt, bei der die Verstellung der Expansion durch ein Handrad erfolgt. Meyer’s Patentantrag war überschrieben mit »Anwendung der Dampfabsperrung bei Dampfmaschinen, vorzüglich den Locomotiven.« 5
Stand: 20.10.2018