1849: George H. Corliss erhält sein erstes Patent

Conrad Matschoss beginnt den zweiten Band seiner »Entwicklung der Dampfmaschine« von 1908 mit den folgenden Worten 1:

  1. Die Corliss-Maschine. A. Die Original-Corliss-Steuerungen.

Eine neue Entwicklungsstufe im Dampfmaschinenbau beginnt mit den Arbeiten des großen Amerikaners George Henry Corliss. Zuerst verspottet, dann anerkannt, verehrt und in den Himmel gehoben, ist wohl seit Watt kein anderer Name so oft in Verbindung mit der Dampfmaschine genannt worden. Der Name Corliss wurde zu einer Empfehlung für die Güte einer Konstruktion, das Wort »Corliss-Maschine« ein Gattungsbegriff für die größte und beste Dampfmaschine.

Dennoch wird aus den biografischen Notizen, die sich über George Corliss (1817–1888) finden, nicht wirklich deutlich, wie es diesem Mann gelingen konnte, derart wichtige Beiträge zur Entwicklung der Dampfmaschine zu leisten, wie er es dann getan hat. Nach einigen Jahren als Bediensteter (general clerk) in einer Baumwoll-Spinnerei eröffnete er 1838 ein Ladengeschäft (country store). Dann wird eine Anekdote berichtet: Als eine Flutwelle eine Brücke fortschwemmte, baute er schnell für 50 $ einen provisorischen Ersatz. 1844 zog er nach Providence Rhode Island und begann dort 1846 seine Arbeiten zu einer verbesserten Steuerung der Dampfmaschine. Anfang 1849 erhielt er sein erstes Patent 2.

Vielleicht hilft es, Corliss’ erstes Patent zu analysieren 3. Das Patent mit der Nummer 6162 datiert vom 10.3.1849, es hat am 13.5.1851 eine Änderung / Ergänzung (Reissued ???) erfahren. Patentinhaber ist George H. Corliss aus Providence, Rhode Island. Der Patentanspruch lautet:

Be it known that I, George H. Corliss, of the city and county of Providence and State of Rhode Island, have invented certain new and useful Improvements in Steam-Engines

ist also recht allgemein gehalten:

Sei hiermit bekannt, dass ich, George H. Corliss, aus der Stadt Providence und dem Staat Rhode Island, verschiedene neue und nützliche Verbesserungen bei Dampfmaschinen erfunden habe.

Zunächst gibt es dort auf 4 Blättern Zeichnungen einer Balanciermaschine. Die Ansicht auf Blatt 1 zeigt einen gußeisernen Balancier, der ungewöhnlich starr ausgebildet ist; Zugstangen sollen offensichtlich Biegekräfte aufnehmen. Insgesamt erscheint der Balancier wie eine liegende Raute. Auch andere feststehende Teile der Maschine erscheinen mir recht massiv, jedenfalls im Vergleich zu sonstigen Konstruktionen.

Blatt 2 zeigt einen Schnitt durch die Maschine und durch den Zylinder, Blatt 3 und 4 Details der Steuerung - eine ganze Reihe von Winkelhebeln und Stangen, siehe Bild @fig:1849-1. Es folgt auf gut 3 Seiten eine Beschreibung.

Corliss US Patent 6162 Fig. 5{#fig:1849-1 height=9cm}

Im ersten Absatz benennt Corliss mangelnde Steifigkeit als ein großes Problem vieler Balancier-Maschinen und beschreibt seine konstruktiven Maßnahmen, um eine starre Maschine zu erreichen. Dann wendet sich Corliss dem Thema »Ventil» zu. Bei den üblichen Flachschieber-Ventilen, so führt er aus, ist die Kraft, um das Ventil zu betätigen, dann am größten, wenn es geschlossen ist (dann ist die größte Fläche dem Dampfdruck ausgesetzt). Die bisherigen Versuche, dem entgegen zu wirken, seien nicht erfolgreich. Durch paarweise Anordnung und Kopplung habe er das Problem nun in den Griff bekommen. Mit seiner Konstruktion sei nicht nur die Stellkraft deutlich geringer, sondern auch die Stellgeschwindigkeit deutlich höher. Als dritte Verbesserung benennt Corliss dann seine Konstruktion der Regelung, d.h. die Art und Weise, wie der Zentrifugalregler die Leistung der Maschine regelt.

Es folgt dann eine ausführliche Erklärung der vier Zeichnungen. Letztlich legt Corliss noch dar, dass seine konstruktive Lösung eine von mehreren möglichen Varianten darstellt und er ein Patent auf die grundsätzliche Vorgehensweise, nicht auf die gezeigte Ausführung, anstrebt.

Über diese allererste Ausführung findet sich in der Literatur nicht viel. Matschoss äusserte sich wie folgt 4:

1848 erbaute er seine erste Dampfmaschine mit selbsttätig vom Regulator verstellbarer Expansion. Es war eine Balanciermaschine von 260 PS; der Dampfzylinder hatte 22 Zoll (559 mm) Durchmesser bei 6 Fuß (1,83 m) Hub. Die Dampfverteilung besorgten vier voneinander getrennte Flachschieber.

Auf der Weltausstellung in Philadelphia 1876 war auch das Modell dieser ersten Corliss-Maschine ausgestellt. Die Steuerung zeigt Fig. I. Links vom Zylinder liegen die Einlaßschieber, rechts die Auslaßschieber; sie werden von kleinen Wellen mit Zahnradsegmenten oder kurzen Hebeln betätigt. Die außensitzenden Schieberhebel sind durch Zugstangen mit der in der Mitte des Zylinders angeordneten, vom Exzenter aus bewegten Steuerscheibe verbunden. Die Auslaßschieber werden zwangsläufig bewegt. Die Hebel der Einlaßschieber endigen in einer Klinke, in die eine zweite, die in der zur Steuerscheibe führenden Zugstange angebracht ist, eingreift. Eine Feder sorgt für das Anliegen der beiden Klinken, das so lange stattfindet, als nicht durch einen äußeren Eingriff die Zugstange gegen die Federwirkung abgedrückt und damit die Klinken außer Einwirkung gebracht werden. Sobald dies geschehen ist, sorgen an den anderen Enden der Ventilhebel angebrachte Gewichte für einen schnellen Schluß des Schiebers. Diese Auslösung geschieht, sobald die Schieberstange gegen einen in besonderer Geradführung geführten Riegel stößt. Je weiter nach rechts dieser Riegel steht, um so eher wird die Schieberschubstange dagegen anstoßen, um so früher werden die Klinken ausgerückt und damit die Füllung geschlossen werden.

Diese Riegel können mit Hilfe einer mit keilartigen Erhöhungen versehenen senkrechten Stange verstellt werden; das geschah bei dieser ersten Corliss-Maschine noch von Hand und nicht vom Regulator.

Soweit zur ersten Corliss-Maschine mit Flachschiebern. Schon im Jahr nach der ersten Patenterteilung baute Corliss eine Balanciermaschine mit Rundschiebern (oder »Corliss-Hähnen«, wie sie seinerzeit wohl auch genannt wurden).

Von da an war der Weg zur der Bauform einer Maschine mit den Rundschiebern sozusagen »an jeder Ecke« des Zylinders nicht mehr weit, siehe Bild @fig:1849-2.

Corliss Zylinder. Die vier großen Querbohrungen nehmen die Rundschieber auf, die beiden oberen für den Frischdampf, die unten für den Abdampf.{#fig:1849-2 }

Die Corliss-Steuerung übte einen sehr großen Einfluß aus. Schon 1857 begann man in Europa mit der Lizenzfertigung 5. Es gab eine Vielzahl von Varianten. Wem die Beschreibungen einer Corliss-Steuerung auch nach wiederholtem Studium unverständlich bleiben, dem hilft vielleicht ein Video 6.

Stand: 6.8.2018