Das 20. Jahrhundert

1900: Charles Norton baut die ersten schweren Produktions-Rundschleifmaschinen

Charles Hotchkiss Norton (1851-1942) war seit 1886 Konstrukteur bei Brown & Sharpe und dort mit der Verbesserung von Universal-Rundschleifmaschinen befaßt. Er gelangte zu der Ansicht, daß die ideale Maschine

  • deutlich schwerer als bis dahin üblich sein müsse
  • einen wesentlich stärkeren Antrieb benötige und
  • mit einer deutlich breiteren Schleifscheibe ausgestattet sein müsse 1

Da es ihm nicht gelang, seine Ansichten durchzusetzen, gründete er 1900 die Norton Grinding Company mit Beteiligung der Norton Emery Wheel Company [vergl. 1877: Franklin B. Norton erhält ein Patent auf eine Schleifscheibe mit keramischer Bindung] 2.

Die ersten beiden Maschinen nach seinen Vorstellungen entstanden Ende 1900, siehe Bild @fig:1900-3. Es konnten damit Werkstücke von bis zu ca. 450 mm ø und 2400 mm Länge bearbeitet werden. Die Schleifscheiben mit keramischer Bindung hatten ca. 610 mm ø und eine Breite von 50 mm. Bald entstanden weitere Varianten, u.a. Maschinen mit gekröpftem Bett, die es ermöglichten, Kolbenstange von Dampfmaschinen, Lokomotiven und Gasmotoren mit aufgeschraubtem Kolben bis 760 mm ø zu schleifen.

Norton Rundschleifmaschine{#fig:1900-3 width=15cm}

Schlesinger schrieb:

Schleifen ist billiger als Drehen! […] Die Schleifmaschine ist tatsächlich zur spanabhebenden Werkzeugmaschine geworden; das beweist die Lockenform der unverbrannten Späne unter dem Mikroskop. Mit der Leistung sind in erster Reihe die Gewichte der Maschine erheblich gewachsen; […] Es sind das Leistungen, die an die der kräftigsten Drehbänke und Fräsmaschinen von heute heranreichen.

Schon 1901 schlossen Norton und Loewe eine Lizenzvereinbarung ab. Seit 1904 stellte Loewe die Maschinen auch selbst her.

Die überragenden Leistungen dieser Maschinen sind auch für die Entwicklung und Einführung des Schlesinger-Loewe-Passungssystems bedeutsam geworden [vergl. 1904: Georg Schlesinger promoviert mit einer Arbeit über »Die Passungen im Maschinenbau«].

1900: Die Umstellung auf die maschinelle Feilenherstellung ist weitgehend erfolgt

Handwerkszeug eines Feilenhauers{#fig:1900-1}

Selten gibt es bei der Entwicklung von Handwerkzeugen Eckdaten, wie sie für eine Synopsis wünschenswert wären. Das gilt auch für die Feile. Wenn man sich auf Deutschland beschränkt, läßt sich allerdings zumindest ein Zeitraum angeben, innerhalb dessen die manuelle Herstellung von Feilen durch die maschinelle abgelöst wurde.

Otto Dick schrieb dazu 1925 3:

Reinhard Mannesmann war wohl der erste Remscheider Feilenfabrikant, der etwa um das Jahr 1850 die Umwälzung der Hausindustrie zum Fabrikbetrieb einleitete und der eine einheitliche Fabrikation in eigenen Werkstätten aufnahm. Obwohl schon im Jahr 1873 die ersten Feilenhaumaschinen aus England nach Remscheid kamen, aber auf die Dauer eben nicht befriedigten, kam die maschienelle Anfertigung von Feilen erst vom Jahre 1890 ab in Aufschwung.

An anderer Stellen stellt Dick noch allgemeiner fest 4:

Mit Ausnahme weniger Uhrmacherfeilen, die in Eßlingen a.N. von der Firma Friedr. Dick auf einigen kleinen Haumaschinen schweizerischer Herkunft hergestellt wurden, hat man in Deutschland noch vor etwa 35 Jahren nahezu sämtliche Feilen nach der alten Väter Weise von Hand mit Hammer und Meißel gehauen.

Man kann also davon ausgehen, dass in Deutschland der Umstellungsprozess von der manuellen Feilenherstellung (dem sog. Feilenhauen) auf die maschinelle Herstellung in den Jahren 1890 - 1900 vonstatten ging.

Dick gibt einen sehr ausführlichen Überblick über die Entwicklung der Feilenhaumaschinen in England, Frankreich, Amerika und schließlich auch Deutschland. Es wird dabei deutlich, dass trotz jahrzehntelanger Entwicklungsarbeit und einer Vielzahl von Ansätzen die Feilenhaumaschinen über sehr lange Zeit nicht die Güte der handwerklich hergestellten Feilen erreichten.

Noch einmal Otto Dick 4:

Vor vielleicht 150-200 Jahren hätte niemand geglaubt, daß erst gegen das Jahr 1900 die mehr oder weniger automatisch arbeitende Feilenhaumaschine so weit gediehen wäre, daß sie nahezu allen Anforderungen genügt und daß auf ihr nicht nur zylindrische, sondern auch bauchige und zugespitzte Feilen mit Vorteil gehauen werden können. Von dieser Zeit ab wurde im ganzen Feilengewerbe die Handarbeit sehr rasch durch die Maschinenarbeit verdrängt und heute dürfte es kaum mehr eine Feilenhauerei, weniger noch eine Feilenfabrik geben, die nicht mindestens 1 oder 2 Maschinen hat.

Feilenschmiede{#fig:1900-2}

1900: Frederick Taylor und Maunsel White präsentieren ihren Schnellarbeitsstahl HSS

Im »American Machinist« erschien am 9.8.1900 unter der Überschrift »The Taylor-White Process of Treating Tool Steel« folgende kurze Notiz 5 6:

By invitation of the Bethlehem Steel Company, representatives of various technical papers attended an exhibition of lathe tools treated by the Taylor-White process at Bethlehem, July 31. The exhibition consisted of showing the operation of the treated tools in comparison with others of Mushet steel - the speed of the lathe being above that at which the Mushet tools would endure for any length of time. Cast iron, tool steel and soft steel were operated upon - the last named at a circumferential speed of 150 feet per minute without water, and without destruction of the treatet tools. The appearance of a large lathe turning a 17-inch steel shaft at this speed is nothing less than startling. We expect to present a full account of the exhibition in our next week’s issue.

Die Bethlehem Steel Company hat Vertreter technischer Zeitungen zu einer Ausstellung am 31.7 in Bethlehem eingeladen. Thema waren Drehstähle, die man dem Taylor-White Prozess unterzogen hatte. Es wurden die behandelten Stähle genauso im Einsatz gezeigt wie andere aus Mushet Stahl, wobei die Drehbank mit höherer Drehzahl betrieben wurde, als es Stähle aus Mushet Stahl zulassen. Gusseisen, Werkzeugstahl und weicher Stahl wurden gedreht, bei letzterem mit einer Schnittgewindigkeit von 45m/min ohne Wasser und ohne Zerstörung der behandelten Stähle. Eine Drehbank, die mit einer solchen Schnittgeschwindigkeit eine 43cm Welle abdreht, ist ein wirklich verblüffender Anblick. In der kommenden Ausgabe werden wir ausführlich berichten.

Wie war es dazu gekommen und wer waren Taylor und White?

Frederick Winslow Taylor (1856-1915) stammte aus reichem Hause, war schon als Jugendlicher auf langen Reisen in Europa gewesen, sprach u.a. Französisch und Deutsch, hatte die Aufnahmeprüfung zur Harvard University bestanden - und begann dennoch 1874 eine Lehre in einer Maschinenfabrik 7. Nach einem Fernstudium wurde er Maschineningenieur und bekam eine leitende Stellung. In dieser Zeit entwickelte er viele der Methoden, die später unter »Taylorismus« bekannt wurden. In einer Vielzahl von Versuchen befasste er sich mit dem Thema Drehbearbeitung und erforschte systematisch den Einfluß der verschiedenen Parameter auf die Standzeit des Werkzeugs und das Drehergebnis. Er definierte Arbeitsschritte, maß Zeiten und wurde zu einem Verfechter des Stücklohns. Sein Mitarbeiter Henry L. Gantt entwickelte das Gantt-Diagramm. Dort, wo sein Einfluß es zuließ, änderte Taylor auch lang geübte Traditionen. War es z.B. bislang üblich gewesen, dass ein Dreher seine Stähle stets selber pflegte und ggf. nachschliff, so führte Taylor eine zentrale Schleiferei ein. Eigens dazu konstruierte er eine spezielle Schleifmaschine.

Mit all diesen Vorstellungen machte er sich oft unbeliebt - nicht nur bei den Arbeitern, sondern auch in Teilen des Managements, was zu einer sehr wechselvollen beruflichen Laufbahn führte. Letztlich war er als beratender Ingenieur in den ganzen USA unterwegs. Ab 1898 war er so für Bethlehem Steel tätig. Dort wurden u.a. große Gußteile hergestellt, die dann vorgedreht oder -geplant wurden. Die entsprechenden Dreh- und Hobelmaschinen waren aber nicht in der Lage, die Gußstücke schnell genug zu bearbeiten. Eine Erweiterung kam nicht in Betracht, man beauftragte Taylor damit, eine Lösung zu finden. Es wurde eine Drehmaschine in ihrer Struktur verstärkt und Taylor begann systematisch, die verschiedenen in den USA lieferbaren Varianten des Mushet-Stahls zu untersuchen. Als Taylor ein Ergebnis präsentieren wollte, wurde die Vorführung zum Fiasko - vielleicht auf Grund von Sabotage. Nun wurde Maunsel White (1856-1912), ein bei Bethlehem angestellter Metallurge, hinzugezogen.

Kanigel beschreibt, dass Taylor und White die Drehstähle, die bei der Präsentation versagt hatten, benutzten und sie auf höhere Temperaturen heizten als bis dato üblich. Nach Erreichen der angestrebten Temperatur, die immer noch über die Farbe, also z.B. Hellkirschrot für 810 °C oder Hellrot für 850 °C 8, geschätzt wurde, ließ man sie an der Luft abkühlen. Dies führte zu erstaunlichen Ergebnissen. Im Laborbuch notierte man:

November 2, 1898 2:06 pm. Tool L4. Speed 41 feet/min. Tool in good condition, finish excellent, chips blue [for the] last ten minutes.

2.11.1898 14:06. Drehstahl L4. Schnittgeschwindigkeit 12,5 m/min. Stahl in gutem Zustand, Oberfläche exzellent, Späne blau [seit den] letzten 10 Minuten.

Übliche Werte für die Schnittgeschwindigkeit lagen bei 8 feet/min, also 2,7 m/min. Kanigel zitiert Taylor 9:

These results were so extraordinary in their novelty, that during the last few experimental runs … the machinists and foremen in the shop flocked around the experimental lathe until, finally, we were obliged to appoint one man to drive them away from the lathe and make them attend their work … Before night of the first day of these phenomenal speeds it was known to hundreds of mechanics all over Bethlehem that this remarkable occurence had taken place.

Diese Ergebnisse waren so außergewöhnlich, dass während der letzten Testläufe Maschinisten und Vorarbeiter in Scharen zu der Versuchs-Drehbank kamen, bis wir letztlich einen Mann abstellten, der die Leute aufforderte, wieder an ihre Arbeit zu gehen … Bevor die Nacht hereinbrach an diesem ersten Tag wußten Hunderte von Schlossern in ganz Bethlehem von diesem bemerkenswerten Ereignis.

Dennoch blieb dieser »Taylor-White-Prozess« rund zwei Jahre ein Firmengeheimnis, bevor Bethlehem Steel zu der eingangs geschilderten Vorführung einlud. Der »Schnellarbeitsstahl« wurde dann auch über die USA hinaus bekannt gemacht. Auf der Weltausstellung in Paris stellte Bethlehem Steel eine große Drehbank auf, auf der dann der Taylor-White-Stahl genutzt wurde. Ein Banner verkündete: »High Speed Cutting Tools« 10.

Vorsatzblatt Deutsche Übersetzung On the Art of Cutting Metals{#fig:1900-4 height=9cm}

Kanigel zitiert Joseph Hartley Wicksteed, zu dieser Zeit Vizepräsident der britischen »Institution of Mechanical Engineers« 11:

[to see] the cuttings coming off in long continuous pieces colored purple with heat … was about as surprising as when it was discovered that a carbon filament could be used for electric current without consuming itself. The whole idea of a tool preserving its edge when in a state of dull red heat was, I think, to all of us a revelation … I consider that it is by far the greatest revolution that has taken place in my life.

[zu sehen] wie die Späne in langen Ketten herab kamen, von der Hitze violett angelaufen … war ebenso überraschend wie seinerzeit als entdeckt wurde, dass ein Kohlefaden genutzt werden konnte um elektrischen Strom hindurch zu leiten ohne zu verbrennen. Die Idee, dass ein Drehstahl seine Schneide behalten konnte obwohl er rot glühte, war, so scheint mir, für uns alle eine Offenbarung … Ich halte dies für die mit Abstand größte Revolution in meiner Lebensspanne.

Das Interesse war damit geweckt, aber schnell war klar, dass die vorhandenen Werkzeugmaschinen für solche Belastungen oft nicht geeignet waren. Schlesinger schrieb 12 13:

1903 erschienen die Aufsätze von Taylor über die »Art of Cutting Metals« und »Shop Management«. Wir mußten vor allem feststellen, ob die besonders in der Materialgüte als erstklassig bekannten Loewe-Maschinen die erhöhten Beanspruchungen und Geschwindigkeiten auch dauernd aushalten würden. Dazu war das Versuchsfeld der geeignete Ort. Wir machten das Fahrgestell ortsfest und nahmen zunächst eine Bohrmaschine und eine Drehbank in Behandlung. Nach vierwöchentlichem Betrieb war die Bohrmaschine, mit den ersten Schnellstahlbohrern ausgerüstet, mit 20 m [pro Minute; S. V.] Schnittgeschwindigkeit und dem damals unerhörten Vorschub von 1 mm/U betrieben, im wahren Sinne des Wortes »fertig«. Alle Keile fielen nämlich aus den Rädern und Wellen, die Gußräder waren z.T. zerbrochen, die Hauptspindel verdreht, das Hauptkugeldrucklager zerstört, weil es viel zu klein war und die Kugeln sich in die damals nicht genügend widerstandsfähigen Bahnen ungleich eindrückten.

Aber das konnte die Einführung von HSS nur verzögern 14.

Auch andere Ideen Taylor’s hatten in Deutschland großen Einfluß. 1921 gründete sich der »Reichs- ausschuß für Arbeitszeitermittlung«, meist besser bekannt unter der Abkürzung REFA, der noch heute als »Verband für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung (REFA)« tätig ist.

Ursprünglich bezeichnete der Begriff »Taylorismus« wertfrei das Prinzip detailliert gesteuerter Arbeitsabläufe, denen Arbeitsstudien und Arbeitsvorbereitung zugrunde liegen. Heute benutzt man den Begriff fast nur noch in kritischem Sinne. Taylor’s Überzeugung, es gäbe für jede Aufgabe genau einen optimalen Weg - er sprach von «The one best way« - wird von vielen nicht mehr geteilt.

Der Leser mag selbst urteilen, ob diese Überzeugung Taylor’s in unsere Zeit passt:

Hardly a competent workman can be found who does not devote a considerable amount of time to studying just how slowly he can work and still convince his employer that he is going at a good pace.

Es wird wohl kaum einen fähigen Arbeiter geben, der nicht einen beträchtlichen Teil seiner Zeit darauf verwendet zu überlegen, wie er möglichst langsam arbeiten kann und dennoch seinen Arbeitgeber glauben machen kann, dass er in gutem Tempo vorankommt.

Stand: 3.11.2018


  1. Ich folge in dieser Darstellung Benad-Wagenhoff, 1993, S. 324 ff. 

  2. Es handelte sich um eine zufällige Namensgleichheit Day + McNeil, 1996, S. 525 f. 

  3. Otto Dick, 1925, S. 33 

  4. Dick, a.a.O. S. 209  2

  5. American Machinist, 1900, S. 783 

  6. Zum Mushet-Stahl siehe 1868: Robert Mushet produziert R.M.S., Robert Mushet’s Special Steel, einen legierten Werkzeugstahl 

  7. Die biographischen Angaben habe ich dem nicht lesenswerten Buch »The One Best Way« entnommen Kanigel, 1997 

  8. Pyrometer waren bekannt und bei Bethlehem Steel gab es auch eines, welches sich aber leider als defekt erwies. 

  9. Kanigel, a.a.O. S. 314 

  10. Hebeisen, 1999, Abb. 7 S. 51 

  11. Kanigel, a.a.O. S. 344 

  12. Spur et. al., 2000, S. 75 

  13. Wenige Jahrzehnte später gab es diese Erscheinung noch einmal: Die Einführung von Hartmetall bedeutete erneut deutlich höhere Belastungen für die Werkzeugmaschinen. Erneut mussten die Konstruktionen versteift werden, erneut führte das zu höheren Maschinengewichten. An heutige Dimensionen gewöhnt, wundert sich mancher Betrachter über filigran und leicht wirkende Konstruktionen von Werkzeugmaschinen aus dem 19. Jahrhundert. 

  14. Schon im Jahr nach der Originalausgabe von Taylor’s »On the Art of Cutting Metals« erschien eine deutsche Übersetzung, von der es mehrere Auflagen gab, siehe Bild @fig:1900-4.