1869: Jules Suriray erhält ein Patent auf Kugellager

Suriray war ein Pariser Fahrradmechaniker. Am 2. August 1869 erhielt er ein Patent auf Kugellager. Die Kugeln wurden von Hand geschliffen (laut Hans-Erhard Lessing im Gefängnis 1). Nachstellmöglichkeiten gab es nicht. Beim weltweit ersten Fahrrad-Straßenrennen Paris-Rouen fuhr der Sieger ein Veloziped mit einem Lager von Suriray (für Details zum Sieger siehe 2). Suriray hatte wohl nicht das weltweit erste Patent auf Kugellager, aber das Fahrrad profitierte ganz besonders von den Vorteilen. So ist die Entwicklung des Fahrrades eng verzahnt mit der Entwicklung des Kugellagers. Bild @fig:1869-1 zeigt die Fertigungsstufen der Stahlkugeln.

Vom Draht zur Kugel{#fig:1869-1 width=10cm}

1869: Brown und Sharpe verkaufen die ersten Mikrometer

Heute ist keine mechanische Werkstatt ohne Mikrometer denkbar. Die Amerikaner David Brown und Lucian Sharpe waren es, die 1869 als erste Mikrometer in der heute bekannten Form anboten.

Es hatte verschiedene Vorläufer gegeben. Schon um 1772 hatte James Watt ein »Tabletop Micrometer« für den persönlichen Gebrauch gefertigt (das Gerät ist erhalten, siehe Bild @fig:1869-2). Um 1805 fertigte Henry Maudslay ebenfalls nur für den Gebrauch in seiner Werkstatt eine Art Mikrometer an. Dieses ist unter dem Namen »Lord Chancellor« bekannt geworden 3 (auch dieses ist erhalten, siehe Bild @fig:1869-3. Der Lordkanzler von Großbritannien ist einer der höchsten und wichtigsten Würdenträger in der Regierung des Vereinigten Königreichs von Großbritannien. Seit 1066 wurde dieses Amt durchgängig besetzt. Maudslay hat also mit dieser Benennung die Bedeutung seines Meßgerätes unterstrichen).

Watt's Mikrometer 1776{#fig:1869-2 height=9cm}

Maudslay's Mikrometer 1805{#fig:1869-3 width=10cm}

Replika eines Mikrometers von Palmer 1867{#fig:1869-4 height=9cm}

Brown & Sharpe Mikrometer 1878{#fig:1869-5 height=9cm}

Die heute bekannte Form des Mikrometers fand der Franzose J. Palmer. Er nahm 1848 ein Patent darauf. Zu einer Verbreitung kam es jedoch zunächst nicht, siehe Bild @fig:1869-4.

Vor 1867 reklamierte ein Kunde der amerikanischen Bridgeport Brass Company eine Lieferung von Messingblechen als nicht maßhaltig 4. Der Leiter S.R. Wilmot entwarf daraufhin eine Schraublehre, die zwar eine hohe Genauigkeit aufwies, jedoch nur sehr schwer ablesbar war. Die Herren Brown und Sharpe, zu diesem Zeitpunkt schon bedeutende Maschinenbauer, die Wilmot’s Schraublehre herstellten, wurden 1867 bei der Weltausstellung in Paris auf Palmer’s Mikrometer aufmerksam und kombinierten die Ideen. Ab 1869 verkauften sie die ersten Exemplare 5, zunächst jedoch nur zur Messung von Blech- und Drahtstärken.

Als »Mikrometer« bezeichneten Brown & Sharpe ihr Meßwerkzeug erstmals 1877, siehe Bild @fig:1869-5. Der Meßbereich wurde deutlich vergrößert, das Gewinde nach innen verlegt und so vor Schmutz und Beschädigung gesichert. Auch eine Klemm- und Nachstelleinrichtung für die Spindel sowie eine Gefühlsschraube wurde hinzugefügt. Brown & Sharpe waren bis in die Mitte der 80er Jahre die einzigen Hersteller.

1869: Das Siemens-Martin-Verfahren wird bei Krupp in Essen eingeführt

Friedrich Siemens (ein Bruder Werner Siemens’ [vergl. 1867: Umwandlung von Arbeitskraft in elektrische Ströme ohne Anwendung permanenter Magnete - die Dynamomaschine]) arbeitete bei seinem Bruder Wilhelm in Birmingham. Er erhielt 1856 ein britisches Patent auf einen Regenerativofen. Dabei werden die heißen Abgase benutzt, um die zugeführte Frischluft soweit als möglich vorzuwärmen. U.a. dadurch wurde eine Steigerung der Ofentemperatur möglich.

Den Brüdern gelang es zunächst nicht, Roheisen zu frischen und so Stahl herzustellen, weil bei der erreichten Ofentemperatur von 1600 °C auch die Ausmauerung des Ofens Schaden nahm. Friedrich Siemens gelang es aber, mit seinem Ofen Glas zu schmelzen. Er wurde größter Glashersteller Europas 6.

Die Franzosen Émile und Pierre-Émile Martin (Vater und Sohn) betrieben eine kleine Eisenhütte. Sie erwarben von Siemens Zeichnungen des Regenerativofens und eine Lizenz. Es gelang ihnen, einen geeigneten Ofen zu bauen. Dieser konnte Roheisen gemeinsam mit Schrott schmelzen. Auf der Pariser Weltausstellung 1867 erhielten sowohl die Martins als auch die Gebrüder Siemens Auszeichnungen 7.

Schnittzeichnung eines Siemens-Martin Ofens 1895{#fig:1869-6 width=12cm}

Lt. der Selbstdarstellung der heutigen »thyssenkrupp AG« wurde das Siemens-Martin-Verfahren 1869 bei Krupp in Essen eingeführt 8. Es gibt jedoch Hinweise, dass diese Datierung sich vielleicht auf den Beginn eines Testbetriebes bezieht. So schreibt Berdrow 9:

Der Kruppsche Versuchsofen hatte fast 100 Chargen schon geliefert, wurde dann Anfang 1870 nach Siemens’ Angaben nochmals umgebaut und arbeitete nun ein ganzes Jahr zufriedenstellend; dann entstand das erste Martinwerk der Gußstahlfabrik.

2002 fand man bei Vorbereitungen für Neubauten auf dem ehemaligen Werksgelände der Krupp- schen Gußstahlfabrik Überreste von Öfen. Detlef Hopp, der Stadtarchäologe Essen’s schreibt diese Funde dem ersten Siemens-Martin-Werk zu 10.

Hopp schreibt:

Aus Gründen der Geheimhaltung enthielt das Werk den Namen »Probirhaus H«. Es entstand eine dreischiffige Halle von 60 m Länge und 40 m Breite mit einer breiten Gießgrube in der Mittelachse. In Richtung der Seitenschiffe verrückt standen 5 Öfen aus Schamottziegeln mit einem Fassungsvermögen von je 4 Tonnen in einer Reihe. Der Herdrand lag ca. 0,5 m über dem Hüttenboden. An beiden Enden der Ofenkammern befanden sich 5 nebeneinander liegende Eintrittsöffnungen für Gas und Luft. Die in den Herd tretenden Flammen sollten ihre Wirkung möglichst auf die Mitte des Ofens geben, deshalb war das Ofengewölbe zur Mitte hin gesenkt. Unter dem Ofen befanden sich die Regeneratoren, durch welche die Ofengase abziehen konnten, um ihre Wärme in das gitterförmig gesetzte Mauerwerk abzugeben. Am 28. September 1871 erschmolz der erste Ofen des neuen Werkes die erste Charge.

Interessant ist ferner:

Auffällig waren die in Konsistenz und Farbe deutlich voneinander zu unterscheidenden Ziegel der einzelnen Öfen. Diese lassen sich evtl. dadurch erklären, dass ab 1876 im Martinwerk Versuche mit basisch ausgekleideten Öfen liefen, um nach Möglichkeiten zu suchen, den Phosphor, der den Stahl spröde und somit unbrauchbar macht, zu entfernen.

Vergl. hierzu [1878: Sidney Gilchrist Thomas gelingt es, phosphorhaltiges Roheisen zu frischen].

Es existiert ein Video, in dem ein Siemens-Martin-Ofen gezeigt wird (Open hearth furnace) 11.

1869: Die erste Woolf’sche Wasserhaltungsmaschine im Ruhrbergbau geht auf Zeche Gewalt in Betrieb

Die Woolf’sche Compound-Maschine [siehe 1804: Arthur Woolf erhält ein Patent auf einen Kessel und eine Zwei-Zylinder-Verbund-Maschine] wurde auf dem Kontinent, zunächst vor allem in Frankreich, weiter entwickelt.

Bei Wasserhaltungsmaschinen waren die Versuche, Einzylinder-Maschinen mit Expansion zu nutzen, nicht erfolgreich gewesen. Der Grund war, dass die Kraft zu Beginn des Hubes ein Vielfaches der über den ganzen Hub gemittelten Kraft betrug. Da mit dem Gestänge insgesamt große Massen aus dem Stillstand zu beschleunigen waren, bedeutete das eine hohe Belastung der Bauelemente. In 12 liest man:

Würde man hohe Expansion bei jenen Maschinen anwenden, so hätte dies zur Folge, dass die Kolbenkraft bei Beginn des Hubes je nach dem Grade der Expansion um ein Vielfaches grösser sein müsste als die mittlere Kolbenkraft, bezogen auf den ganzen Hub. So ist z. B. die Anfangskolbenkraft bei vierfacher Expansion nahezu gleich der doppelten mittleren Kolbenkraft und bei achtfacher Expansion grösser als das Dreifache der letzteren bezw. der Kolbenkraft einer Maschine ohne Expansion. Daraus folgt, dass das Gestänge von eincylindrigen Expansionsmaschinen beim Anhub ausserordentlich stark emporgerissen wird und die Gefahr eines Gestängebruchs sehr gross ist. Ausserdem bedingen Eincylinder-Maschinen mit starker Expansion sehr grosse bewegte Massen.

Bei der Woolf’schen Maschine wurden solche Probleme umgangen und es gelang mit ihr, den Dampfverbrauch deutlich zu vermindern - was bei den rotierenden Maschinen mit ihrer deutlich gleichmäßigeren Belastung schon längst eingeführt war.

1869 wurde eine Maschine dieser Bauart von der Friedrich-Wilhelmshütte in Mülheim für die Zeche Gewalt gebaut 13, siehe auch [1848: Der erste Kokshochofen des Ruhrgebietes wird auf der Friedrich-Wilhelms-Hütte in Betrieb genommen].

Einige Jahre zuvor hatte Carl Kley zwei solcher Maschinen für Altenberg bei Aachen konstruiert. Sie waren 1861 bzw. 1862 in Betrieb genommen worden. In Altenberg, heute besser als Kelmis (Belgien) bekannt, wurde das Mineral Hemimorphit (früher auch Kieselzinkerz oder auch Galmei genannt) abgebaut. Nach einigen Jahren scheinbar erfolgreichen Betriebs veröffentlichte Kley 1865 ein Buch mit detaillierten Angaben über diese Maschinen 14. Matschoss rühmte es 1901 15:

Es gehört zu den wenigen Büchern, von denen sich nachweisen läßt, daß sie zur tieferen Erkenntnis der Dampfmaschine, im besonderen der Wasserhaltungsmaschine, wesentlich beigetragen haben.

In den folgenden Jahren wurden Maschinen dieses Typs an unterschiedlichen Orten gebaut.

1869: Die ersten Hochräder mit Stahlspeichenräder werden gebaut

Die bei der Pariser Weltausstellung 1867 präsentierten »Michaulinen« [vergl. 1853: Die ersten Tretkurbelräder werden gebaut] waren für kurze Zeit sehr gefragt. Wenn man aber damit schnell fahren wollte (und es bei guter Straße auch konnte), musste man schneller treten - Rad und Tretkurbel waren ja starr verbunden.

Die klare Konsequenz war es, den Raddurchmesser zu vergrößern. So entstand sehr schnell das Hochrad. Eugène Meyer ließ sich 1869 ein Patent auf ein Stahlspeichenrad in einer Bauform ähnlich der noch heute üblichen erteilen. Aber auch hier gab es unterschiedliche Ansätze und mehrere Väter. Wirtschaftlich erfolgreich war wohl James Starley, der ab 1868 Fahrräder baute und 1871 sein Modell Ariel vorstellte. Dieses hatte ebenfalls Drahtspeichen (allerdings tangentiale) in einem Vorderrad von 127 cm Durchmesser. Wohl erstmalig gab es Vollgummireifen.

Das Hochrad wurde zu einem angesagten Sportgerät. Natürlich war es alles andere als leicht, dieses Sportgerät zu beherrschen. Es entstanden regelrechte Fahrschulen.

Mark Twain hat in »Wie man das Hochrad zähmt« über seine ersten Fahrversuche berichtet. Diesen Text möchte ich hier zitieren 16:

Wir erlangten eine hübsche Geschwindigkeit und fuhren gerade über einen Stein, als ich über die Pinne flog und kopfüber auf dem Rücken des Fahrlehrers landete, wobei ich die Maschine zwischen mir und der Sonne durch die Luft flattern sah. Nur gut, dass sie auf uns landete, denn das bremste ihren Fall, so dass sie nicht zu Schaden kam.

Fünf Tage später konnte ich wieder aufstehen, und es trieb mich zum Hospital, wo ich den Experten in leidlicher Verfassung fand. Nach ein paar Tagen war ich ganz gesund. Ich führe dies auf meine weise Voraussicht zurück, immer auf etwas Weichem abzusteigen.

Manche Leute empfehlen ein Federbett, aber ich finde einen Experten besser.

Soweit Mark Twain. Diese Räder waren sehr gefährlich und es dürfte viele schwere Unfälle gegeben haben. Bild @fig:1869-7 zeigt ein Hochrad speziell für Rennen aus dem Jahre 1884.

Rudge Normal Rad 1884. Rennversion{#fig:1869-7}

Stand 24.4.2018